Polyvagal-Theorie

Biologie des mit-fühlens*

Die Polyvagal-Theorie (PVT) von Stephen Porges ist für mich der ‚General-Schlüssel‘ zum Erleben von Sicherheit und Verbundenheit … bzw. dieses immer wieder neu zu ermöglichen und zu fördern … und so körperlich und psychisch eine ‚dynamische Balance‘ zu erleben, zwischen Psychischer Flexibilität (subjektive Wahlfreiheit) und Psychischer Sicherheit (Vertrauen/Verbundenheit/Eingebundensein).

Dabei beschreibt die PVT aus meiner Sicht vor allem die unwillkürlich ablaufenden Aktivitäten unseres autonomen Nervensystems (ANS) in der sozialen Interaktion und da dies wesentlich beeinflusst, wie zugewandt und mitfühlend wir unseren Kontakt gestalten und manchmal auch ’nicht gestalten können‘ nenne ich sie „Biologie des mit-fühlens„.

Die PVT unterscheidet drei Grund-Modi, in denen unser autonomes Nerven-System operiert/schwingt/aktiviert sein kann:

1.) Sicher-genug-Modus – SAFETY
Oder auch „social connetion and play mode“ … wenn das „Social Engagement System“ ‚arbeitet‘, ist vor allem der myelinisierte, ventrale Vagus aktiv … er nimmt vorzugsweise Sicherheitssignale wahr … und erlebt werden vor allem: flexible moderate Erregung, Prosozialität und MITGEFÜHL

2.) Achtung-Gefahr-Modus – DANGER
Das Mobilisierungssystem wird aktiviert, die „Vagale Bremse“ ist gelöst und der Sympathikus übernimmt. Das Neuro-Biologische-System ist deutlich bis hoch erregt … will FLIEHEN … und wenn das nicht möglich ist: KÄMPFEN! … und fokussiert vor allem auf Gefahrensignale.

3.) Das-Leben-ist-bedroht-Modus – LIFE-THREAT
Wenn weder Flucht noch Kampf möglich sind immobilisiert sich der Körper … dabei dominiert der unmyelinisierte Vagus … der Fokus verengt sich weiter auf ‚lebenbedrohliche Signale‘ … und für das damit einhergehende Erleben passen Worte wie: Hochspannung, Resignation, Betäubung, Ohnmacht, Dissoziation, Erstarrung, FREEZE.

Die PVT begleitet mich seit 2015 … und ich entdecke sie seit gut einem Jahr ganz neu für mich, … auch inspiriert durch die Interviews mit Deb Dana „Story follows state“ … und „SDS Thursdays: On Polyvagal Theory“ in denen sie beschreibt, wie diese Modi biologisch wirken und dabei ‚denken, fühlen, sprechen und tun‘ beeinflussen … wie hilfreich es ist, wenn Menschen die Modi kennen, … wenn sie lernen, sie in sich zu unterscheiden … zu bemerken, wann und wie sie ‚passieren‘ … und ‚zuverlässige Wege‘ zu entwickeln, wie sie immer wieder in den Sicher-genug-Modus zurückkommen können … und damit zurück zu Verbindung, Mitgefühl und auch zu Offenheit, Neugier und Kreativität.

Das hat mich inspiriert, meine eigenen ‚Wellen‘ daraufhin anzuschauen … und ich bin angenehm überrascht, wie hilfreich ich das erlebe.

Einen guten Überblick gibt

Sehr gut gefallen mir auch die ausführlichen Informationen auf Deutsch von Mathias Thimm …

Englischsprachige Videos

Eine Serie von kurzen Frage-Antwort-Videos mit Stephen Porges himself: surrender.no/source-of-inspiration-pvt

 

Zwei Bücher

Die mir im Moment wichtigsten Bücher dazu sind:

Der Selbstheilungsnerv – So bringt der Vagus-Nerv Psyche und Körper ins Gleichgewicht … von Stanley Rosenberg … mit 8 einfachen Übungen

Arbeiten mit der Polyvagal-Theorie – Übungen zur Förderung von Sicherheit und Verbundenheit … von Deb Dana

 

Die Grund-Ideen der PVT lassen sich in den folgenden sieben Aussagen zusammenfassen:

  1. Viele Erlebnisse, die wir als schwierig, belastend und vielleicht sogar dysfunktional empfinden, sind komplett nachvollziehbar (und „gesund”!), wenn wir sie aus der Perspektive des autonomen Nervensystems (ANS) betrachten.
  2. Das Erleben von Sicherheit und Verbundenheit ist für unser ANS (und damit für so gut wie alle körperlichen und seelischen Prozesse) ist laut der Polyvagaltheorie die wichtigste Voraussetzung für unser Wohlbefinden wie auch für unsere gesunde Entwicklung.
  3. Das Erleben von ’sicher genug‘ kommt vor allem aus dem Körper, nicht aus dem Kopf. Deshalb wird dieses Bedürfnis auch in unserer modernen Lebenswelt oft viel weniger befriedigt, als uns bewusst ist.
  4. Wir können selber dazu beitragen, dass unser ANS ’sicher genug‘ erlebt. Wir können bewusst Einfluss auf weitestgehend unbewusste Prozesse ausüben.
  5. Die Fähigkeit unseres ANS, aus Stress zu Sicherheit zurückzukehren (= Resilienz, die wichtigste Coping-Strategie überhaupt) ist trainierbar.
  6. Und dieses Training lohnt sich: Je häufiger das ANS sich sicher fühlt und je schneller es zu Sicherheit zurückkehren kann, desto besser geht es mir und desto lebendiger werde ich.
  7. Anregungen: (a) Lerne, deine eigenen Aktivierungszustände zu erkennen und (b) übe systematisch, immer wieder zu einem Gefühl von Sicherheit zurückzukehren.

Inspiriert durch den lesenswerten Artikel zur PVT von Malwina Ulrych.

 

*In der „Biologie des mit-fühlens“ (engl. Biology of compassion) schreibe ich das ‚mit-fühlen‘ absichtlich klein, weil ich, wie bei den anderen ‚Biologien‘ auch, auf den prozesshaften Verlauf, auf das andauernde Tun bzw. Passieren hinweisen und immer wieder neu aufmerksam machen will.

Aktualisiert am: 21.03.2022